Komplexität verstehen lernen – mit dem Cynefin-Modell

Warum Zuhören, Achtsamkeit und echte Verbindung helfen, in einer unübersichtlichen Welt handlungsfähig zu bleiben
Komplexität prägt unser Leben – ob in Organisationen, in Beziehungen oder in unserem persönlichen Alltag. Wir bewegen uns in einer Welt, die von Dynamik, Vernetzung und ständiger Veränderung gekennzeichnet ist. Täglich stehen wir vor Situationen, deren Zusammenhänge wir nicht sofort durchschauen. Was gestern noch galt, kann heute schon überholt sein.
In dieser Realität gewinnt die Fähigkeit, Komplexität zu verstehen und mit ihr umzugehen, enorm an Bedeutung. Ein hilfreicher Kompass in diesem Spannungsfeld ist das Cynefin-Modell des Wissensmanagers Dave Snowden. Es hilft, Situationen einzuordnen und passendes Handeln abzuleiten – ohne dabei vorschnell einfache Antworten auf komplexe Fragen zu liefern.
Doch Wissen allein reicht nicht. Um in komplexen Kontexten wirklich Orientierung zu finden, braucht es etwas Tieferes: die Fähigkeit zum achtsamen Zuhören, zum Perspektivwechsel, zur echten Verbindung – mit anderen und mit sich selbst.
Was das bedeutet – und wie Formate wie der Council helfen können, diese Fähigkeiten zu stärken – darum geht es in diesem Blogartikel.
- Komplexität ist nicht kompliziert – ein Perspektivwechsel mit dem Cynefin-Modell
- Komplexität begegnen – mit echtem Zuhören
- Komplexe Kontexte brauchen neue Formen des Dialogs
- Verbindung als innere Haltung im Umgang mit Komplexität
- Fazit: Komplexität braucht Verbindung, Achtsamkeit und den Mut zum Nicht-Wissen
Komplexität ist nicht kompliziert – ein Perspektivwechsel mit dem Cynefin-Modell
Oft werden die Begriffe kompliziert und komplex fälschlicherweise gleichgesetzt – dabei liegt genau in dieser Unterscheidung der Schlüssel zu einem besseren Verständnis unserer heutigen Herausforderungen. Das Cynefin-Modell, entwickelt von Dave Snowden, bietet eine differenzierte Sichtweise auf die verschiedenen Arten von Situationen, in denen wir uns bewegen. Es lädt uns dazu ein, innezuhalten, genauer hinzusehen – und nicht vorschnell nach Lösungen zu greifen, wo zuerst Orientierung gefragt ist.
Das Modell unterscheidet fünf Bereiche:
- Einfach: Hier bestehen klare Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Lösungen sind bekannt, Standards helfen. Das klassische Beispiel: ein Kochrezept.
- Kompliziert: Auch hier sind Lösungen möglich – aber nur durch Analyse oder Expertenwissen. Ein Auto zu reparieren ist kompliziert, aber machbar.
- Komplex: In diesem Feld lässt sich Ursache und Wirkung nicht eindeutig bestimmen. Es geht darum, Muster zu erkennen, zu experimentieren, Feedback zu nutzen. Viele zwischenmenschliche und organisationale Prozesse fallen in diesen Bereich.
- Chaotisch: Hier gibt es keine erkennbare Ordnung. Es braucht schnelle Entscheidungen, um erste Stabilität herzustellen, bevor Analyse möglich ist.
- Aporetisch (auch: diffus, verworren, anarchisch): Dieser Bereich steht für Verworrenheit der Bereich, der sich im Zentrum des Modells zeigt. Es ist noch nicht klar, ob die Themen sich dem geordneten oder ungeordneten Bereich zuordnen lassen. Es fordert eine Analyse, um die Situation zu klären.
Bewegung zwischen den Bereichen
Wenn wir mehr Wissen haben, bewegen wir uns im Uhrzeigersinn vom Chaos über komplexe und komplizierte Situationen hin zu klaren Lösungen. Auf der anderen Seite können Vorurteile, Selbstzufriedenheit oder Vernachlässigung dazu führen, dass wir scheitern und wieder ins Chaos zurückfallen. Diese Rückbewegung wird durch die Verbindung zwischen den Bereichen dargestellt. Manchmal kann es auch passieren, dass wir gegen den Uhr-zeigersinn zurückgehen, wenn Menschen sterben und Wissen verloren geht oder wenn
neue Generationen die bestehenden Regeln hinterfragen. Umgekehrt kann es auch vor-kommen, dass wir vom Chaos zu klaren Lösungen kommen, wenn plötzlich neue Regeln
eingeführt werden, weil es vorher keine Ordnung gab.
Gerade Komplexität fordert uns heraus, weil wir nicht mehr planen und kontrollieren können wie gewohnt. Was hilft? Nicht das schnelle Handeln, sondern das bewusste Wahrnehmen. Nicht die fertige Antwort, sondern die Fähigkeit, zuzuhören – dem System, den Beteiligten, den kleinen Veränderungen, die Hinweise geben.
Das Cynefin-Modell macht sichtbar: In einer komplexen Welt brauchen wir eine andere Haltung. Eine, die Unsicherheit aushält. Die Achtsamkeit einlädt. Die den Automaten im Gehirn ausbremst – und den Diplomaten aktiviert. Und genau hier beginnt ein anderes Zuhören. Ein Raum, in dem neue Perspektiven entstehen können.

Komplexität begegnen – mit echtem Zuhören
In einer komplexen Welt reicht es nicht mehr aus, schnelle Antworten zu geben oder Prozesse zu optimieren. Vielmehr geht es darum, Räume zu schaffen, in denen wir uns erlauben, nicht sofort zu wissen – sondern zunächst wirklich zuzuhören. Das mag ungewohnt klingen, aber gerade in Situationen, in denen Ursache und Wirkung nicht klar sind, ist Zuhören eine der wirkungsvollsten Praktiken.
Zuhören ist nicht passiv. Es ist eine bewusste Entscheidung, mit allen Sinnen präsent zu sein. Es bedeutet, den inneren Kommentator leise zu stellen, nicht schon an die eigene Antwort zu denken, während die andere Person noch spricht. Es bedeutet, neugierig zu bleiben. Auch dann, wenn das Gehörte zunächst irritiert oder nicht ins eigene Weltbild passt.
Gerade bei komplexen Fragestellungen – sei es im Unternehmen, in einem Team oder in gesellschaftlichen Fragen – geht es darum, verschiedene Perspektiven wahrzunehmen. Menschen erleben Situationen unterschiedlich. Und genau das macht es möglich, blinde Flecken zu erkennen, Muster zu entdecken und neue Ansätze zu entwickeln.
Das bewusste Zuhören unterbricht den Automatismus. Es holt uns aus der Trance des schnellen Denkens, die unser Primat in stressigen Situationen übernimmt. Wenn wir aufmerksam zuhören, wird der Raum zwischen Reiz und Reaktion größer – genau dort beginnt echte Veränderung. Achtsamkeit unterstützt uns dabei, präsent zu bleiben, unsere eigenen Muster zu erkennen und mitfühlender zu reagieren – mit uns selbst und anderen.
Im Alltag kann das bedeuten:
- In einem Gespräch nicht sofort zu bewerten, sondern erst einmal anzunehmen, was gesagt wurde.
- In Meetings bewusst Pausen einzubauen, in denen das Gesagte nachwirken darf.
- Im Unternehmen Strukturen zu schaffen, die Verbindung und echtes Zuhören fördern – zum Beispiel durch ein Unternehmer-Council.
Denn je mehr Komplexität im Spiel ist, desto wichtiger wird eine Kultur des achtsamen Zuhörens. Nicht als Technik, sondern als Haltung.
Komplexe Kontexte brauchen neue Formen des Dialogs
In komplexen Situationen hilft es nicht, auf lineare Prozesse oder einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu setzen. Was hier gebraucht wird, ist kollektive Intelligenz – also die Fähigkeit einer Gruppe, mit Unsicherheit, Vieldeutigkeit und Wandel umzugehen. Und diese Fähigkeit entfaltet sich nicht in Diskussionen, in denen es ums Rechthaben geht. Sie entsteht dort, wo Raum ist für echtes Teilen, Zuhören und gemeinsames Forschen.
Der Council ist genau ein solcher Raum. Es ist ein strukturiertes Dialogformat, in dem Menschen zusammenkommen, um zuzuhören – nicht, um zu überzeugen. Um zu sprechen – nicht, um zu argumentieren. Und um sich selbst und einander zu begegnen – nicht, um eine Lösung zu erzwingen.
Im Council sprechen Menschen von Herzen, hören einander ohne Unterbrechung zu und geben sich gegenseitig den Raum, ihre Erfahrung zu teilen. Diese Art des Dialogs wirkt entschleunigend – und ermöglicht damit, aus dem Modus der Reaktivität auszusteigen. Der Automat wird stiller, der Diplomat aktiver. Plötzlich ist wieder Platz für Verbindung, für Nachdenken, für Staunen. Und gerade in komplexen Herausforderungen ist genau das gefragt.
In solchen Formaten wird sichtbar, was in klassischen Gesprächen oft untergeht:
- Dass die Perspektive der anderen oft eine Ergänzung zur eigenen ist.
- Dass wir nicht sofort handeln müssen – sondern erst einmal wahrnehmen dürfen.
- Dass Unsicherheit nichts ist, was es zu vermeiden gilt, sondern etwas, mit dem wir leben und arbeiten können.
Gerade in Unternehmen zeigt sich, wie kraftvoll solche Räume sein können: Wenn Teams aufhören, sich gegenseitig zu übertönen – und stattdessen anfangen, einander zuzuhören, entsteht eine neue Form von Zusammenarbeit. Es geht nicht mehr darum, wer Recht hat, sondern was gemeinsam entstehen will.
Das ist nicht immer bequem – aber genau hier liegt die transformative Kraft von achtsamer Verbindung.
Verbindung als innere Haltung im Umgang mit Komplexität
Komplexität lässt sich nicht einfach auflösen. Sie ist kein Problem, das sich analysieren und dann linear lösen lässt – vielmehr verlangt sie von uns, präsent zu bleiben, auch wenn die Dinge unklar oder widersprüchlich sind. Genau hier zeigt sich, wie entscheidend unsere innere Haltung ist. Denn: Nicht alles, was wir nicht sofort verstehen, ist falsch. Und nicht alles, was wir gewohnt sind, ist noch sinnvoll.
Verbindung zu sich selbst ist dabei die Grundlage. Wenn ich in Kontakt mit meinen Gedanken, Gefühlen und Reaktionen bin – wenn ich mir selbst wohlwollend begegne – dann kann ich Unsicherheit anders halten. Ich reagiere weniger impulsiv, handle weniger aus Angst, sondern beginne, bewusst zu beobachten. Diese Fähigkeit – präsent zu bleiben, während sich Dinge entfalten – ist eine Form von innerer Stabilität, die in komplexen Zusammenhängen Gold wert ist.
Achtsamkeit unterstützt genau diesen Prozess: Sie macht es möglich, Reiz und Reaktion voneinander zu trennen. Ich bemerke, wenn mein Automatismus anspringt – und kann innehalten, atmen, und vielleicht eine neue Antwort finden. So entsteht Wahlfreiheit.
Zuhören, wie es im Council praktiziert wird, öffnet den Raum für echte Perspektivenvielfalt. Wenn wir es schaffen, andere Menschen nicht sofort durch unsere eigenen Filter zu bewerten, sondern sie mit offenem Herzen wahrzunehmen, dann entsteht Verbindung – nicht als Gefühl, sondern als Haltung. Gerade in komplexen Situationen braucht es diese Form der Co-Kreation. Denn niemand hat die Wahrheit allein.
Council als Ritual stärkt genau diese Fähigkeit: gemeinsam zu denken, ohne gleich zu bewerten. Gemeinsam zu fragen, ohne sofort zu antworten. Die Verbindung im Kreis ermöglicht es, dass auch das Nicht-Wissen Platz bekommt. Und dass daraus etwas Neues entstehen kann.
Komplexität zu begegnen heißt auch, die Kontrolle ein Stück weit loszulassen – und sich der inneren wie äußeren Vielfalt zu öffnen. Wenn wir uns selbst gut führen können, wenn wir den Mut haben, Unsicherheit zu halten und gemeinsam zu denken, entsteht ein Raum, in dem nicht nur Lösungen möglich sind – sondern auch Entwicklung.
Fazit: Komplexität braucht Verbindung, Achtsamkeit und den Mut zum Nicht-Wissen
In einer Welt, die sich zunehmend als vielschichtig, dynamisch und unvorhersehbar zeigt, sind einfache Antworten selten tragfähig. Das Cynefin-Modell bietet eine hilfreiche Landkarte, um einzuordnen, mit welcher Art von Situation wir es gerade zu tun haben – und macht deutlich, wie unterschiedlich unsere Herangehensweisen sein müssen. Gerade im komplexen Bereich ist es nicht die schnelle Lösung, die zählt, sondern die Fähigkeit, präsent zu bleiben, zu beobachten und zu lernen.
Achtsamkeit hilft, Automatismen zu durchbrechen und sich selbst wie auch andere bewusster wahrzunehmen. Zuhören, insbesondere in Formaten wie dem Council, ermöglicht echten Austausch – jenseits von Bewertungen und vorschnellen Reaktionen. So entstehen Räume, in denen neue Ideen, Verstehen und tragfähige Beziehungen wachsen können.
Verbindung – zu uns selbst, zu anderen, zur Situation – ist kein Luxus. Sie ist ein Kompass. Wer sich darin übt, nicht sofort alles einordnen zu müssen, sondern mit Offenheit zu bleiben, kann die Komplexität nicht nur halten, sondern mitgestalten.
Und genau darin liegt eine große Chance: in der Entwicklung einer Haltung, die dem Leben in all seiner Vielschichtigkeit mit Klarheit, Präsenz und Mitgefühl begegnet.
Übersicht:
- Komplexität ist nicht kompliziert – ein Perspektivwechsel mit dem Cynefin-Modell
- Komplexität begegnen – mit echtem Zuhören
- Komplexe Kontexte brauchen neue Formen des Dialogs
- Verbindung als innere Haltung im Umgang mit Komplexität
- Fazit: Komplexität braucht Verbindung, Achtsamkeit und den Mut zum Nicht-Wissen